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Ferien - endlich Erholung oder gleiches Drama vor neuer Kulisse?

Dayana Gmünder

Aktualisiert: 27. Okt. 2022

Der Herbst steht vor der Tür. Und mit ihm die nächste Ferienwelle. Ich finde Ferien etwas Faszinierendes. Weniges ist derart mit Hoffnung besetzt wie die Gedanken an die nächsten Tage abseits von zuhause. Und in der Tat können uns ein paar Tage weg vom Alltag den Stress der letzten Monate von den Schultern nehmen oder neue Perspektiven aufzeigen. Ferien sind ab und zu wichtig. Aber was ist, wenn die Realität von unseren Vorstellungen so stark abweicht, dass wir uns alles andere als freuen, entspannen oder erholen können?


ferien - endlich erholung oder gleiches drama vor neuer kulisse?

Ich kenne diese Momente gut. Situationen, in denen mich die Angst und der Frust zu zerfressen scheinen. In denen ich grossen Ekel spüre. Ich mich alleine und völlig verlassen auf diesem Planeten fühle. Ich so deprimiert bin und im Aussen nur auf Unverständnis treffe. Ich vor Verzweiflung und Wut am liebsten ausrasten will, mich dann aber doch zurücknehme. Denn in den Ferien hat man doch fröhlich und zufrieden zu sein, oder? Entspannt und neugierig obendrauf. So die gängige Meinung. Lobeshymnen auf die immer tollen Ferien gibt es zur Genüge. Zurecht. Und doch glaube ich, es würde uns allen gut tun, an diesem idealistisch-positiven Bild von Ferien etwas zu rütteln. Zu sehen, dass sie viel mehr sein können als unsere oftmals romantische Idee davon. Dass sich ein grosses Lernpotential darin verbirgt.

Hier eine kurze Inhaltsübersicht:



Knatsch & andere Schwierigkeiten in den Ferien


Ich liebe den Herbst und mit ihm ein paar freie Tage irgendwo im Tessin oder im Bergell beim Marroni-Sammeln. Bunte Laubwälder, der morsche Duft, goldige Herbstsonne und ein liebevoll gestaltetes Zuhause auf Zeit. Vorfreude steigt in mir auf. Ja, es ist eine etwas romantische Vorstellung. Eine, die mich die manchmal mühsame Planung und mögliche Probleme vergessen lässt. Denn Urlaub und die Zeit dazwischen sind ein bisschen wie ein Kreislauf - nach den Ferien ist vor den Ferien. Und Gedanken an mögliche Probleme werden weggeschoben, sodass der Kreislauf immer schön weitergehen kann. Und sich die immer gleichen Dramen vor neuer Kulisse abspielen können. Weil das längerfristig ziemlich anstrengend sein kann, möchte ich im Folgenden die typischen Herausforderungen von Ferien einmal genauer anschauen.



ferien - endlich erholung oder gleiches drama vor neuer kulisse?

Starten wir den Kreislauf bei der Planung - einer heiklen Phase. Oft treten Schwierigkeiten schon hier auf. Für die einen mag das Planen super spannend sein und die Vorfreude zum Heizen bringen. Durch das Planen können wir unsere Unsicherheit unter Kontrolle (und die Angst zum Schweigen) bringen. Für andere wiederum ist dies ein enormer Kraftakt, verbunden mit viel Angst, auch wenn wir uns dessen vielleicht nicht bewusst sind. Werde ich mich wohlfühlen? Wie ist die sanitäre Situation? Schränke ich mich durch die Buchung im Voraus nicht zu sehr ein? Brauche ich eine Impfung? Wie zuverlässig ist der öffentliche Verkehr? Und ganz allgemein: Treffe ich die richtige Entscheidung? All diese Fragen können dazu führen, dass wir ob der schieren Menge an Eventualitäten überwältigt sind. Sodass uns die Angst buchstäblich blockiert und wir die Planung entweder aufschieben oder uns darüber nerven. Vielleicht halten die Gedanken daran sogar einige von uns bereits vom Urlaubmachen ab. Oder führen immerhin dazu, dass wir nie etwas Neues ausprobieren.

Planen wir, unseren Urlaub alleine zu verbringen, können wir immerhin entsprechend auf unsere eigenen Bedürfnisse eingehen. Kommt ein:e Partner:in dazu, wird es schon komplizierter. Einerseits kann die romantische Vorstellung vom Paarurlaub beflügeln, andererseits ist auch das Konfliktpotential um einiges höher. Mindestens zwei Parteien müssen sich über verschiedene Punkte einigen und meistens Kompromisse eingehen. Wo soll es hingehen? Wie wollen wir wohnen? Wie viel Geld wollen wir ausgeben? Wie viel wollen wir im Voraus planen? Kein Wunder also, dass bereits hier Konflikte entstehen.

Beginnt das Abenteuer Ferien endlich, tauchen spätestens hier Diskussionen, die in der Planungsphase nicht geführt wurden, auf. Neue Unsicherheiten zeigen sich, schwelende Konflikte beginnen wieder zu brodeln. Wenn wir alleine in den Ferien sind, sind wir zwar ziemlich frei in unseren Entscheidungen, aber vielleicht tauchen auch da plötzlich ein Leeregefühl, Angst, Einsamkeit und Langeweile auf.


Denn manchmal stimmt äusserlich eigentlich alles, aber wir sind trotzdem nicht zufrieden. Dann merken wir, dass selbst Änderungen im Aussen unsere Stress-Probleme im Innern nicht verändern.

Wenn wir dann "schon wieder" oder "endlich" zurück zuhause sind, vermeiden wir oft eine Reflexion über die vergangenen Tage. Anstatt unsere Knacknüsse genauer anzuschauen, lassen wir uns sofort wieder vom Alltag absorbieren und schwelgen in Erinnerung an die positiven Momente. Das Schwierige blenden wir oft aus oder machen im Nachhinein Witze darüber. Wir nutzen eine grosse Chance nicht und ziehen die Probleme stattdessen unbewusst in den Alltag oder die nächsten freien Tage weiter. Der Kreislauf schliesst sich.


Den Gründen auf der Spur


Doch wieso überhaupt entstehen diese Schwierigkeiten und weshalb bringen sie uns derart aus dem Lot?


Druck, Hoffnung und andere Gedanken

Einerseits lastet oft der (vielleicht auch soziale?) Druck so gross auf unseren Ferien. Alles wollen wir gut machen, damit wir diese kurze freie Zeit, die die unsrige ist, nicht verschwenden. Aber unseren Vorstellungen gerecht zu werden, ist schlicht kaum möglich, wenn wir nur das Positive wollen. Es gibt immer irgendwas, das nicht ganz so toll ist. Das ist die natürliche Wellenbewegung des Lebens. So können wir gar nicht zur Ruhe kommen, weil es einfach nie gut genug ist. Eine Möglichkeit, diesen Frust zu bewältigen, ist, diese Gedanken auf uns selbst zu übertragen und uns selbst zu verabscheuen ("Ich bin nicht gut genug.") oder aber wütend auf andere zu werden ("Sie sind Schuld!").


Unsicherheit

Andererseits mögen unser Geist und unser Körper schlicht keine Unsicherheiten. Rein evolutionär bedingt bedeuten sie Gefahr, auch wenn wir uns nach aussen noch so cool geben. An die Unsicherheiten des Alltags haben wir uns vielleicht schon einigermassen gewöhnt oder Strategien im Umgang damit gefunden. In den Ferien ist aber nochmals alles anders, wir sind ständig neuen Reizen ausgeliefert, ständige Anpassung ist gefordert. Das kann anstrengend sein, denn unser Nervensystem ist dann immer mehr oder weniger alarmiert.

Die Erfahrungen aus unserer frühen Kindheit entscheiden darüber, wann und wo wir uns heute sicher fühlen. Für die einen ist es die ultimative Sicherheit, in einem schönen Hotel mit Vollpension zu hausen. Für die anderen das scheinbar genaue Gegenteil, nämlich ziemlich spontan mit dem Zelt unterwegs zu sein.

Solange wir uns nicht sicher fühlen, sind wir immer leicht wachsam und dementsprechend nicht in der Lage, uns zu entspannen oder richtig zu freuen. Wenn wir nun zu zweit in den Ferien sind, müssen wir sogar mehrere Bedürfnisse befriedigen, damit sich beide mehr oder weniger sicher fühlen. Kompromisse sind unausweichlich, Diskussionen leider oft ebenfalls. Denn die Fähigkeit, sich zu einigen, ohne dass sich jemand komplett für die andere Person aufgibt und am Ende dennoch beide zufrieden sind, ist eine hohe Kunst.


Fehlende Ablenkung

Und nicht zuletzt, wir haben endlich Zeit. Unsere Strategie des Ablenkens funktioniert womöglich nicht mehr. Plötzlich fühlen wir eine unangenehme Leere, die wir im Alltag noch überdeckeln können. Wir fühlen uns schlecht, auch wenn im Aussen eigentlich alles gut ist. In solchen Momenten zeigen sich sehr deutlich unsere Bindungsmuster und Selbstschutzstrategien. Oder wie Traumatherapeutin Dami Charf sagt:


In der Ruhe der Entspannung warten alle unterdrückten Gefühle.

In der Beziehung kann es dann sein, dass wir die andere Person nochmals ganz neu kennenlernen. Sehen zum Beispiel, wie sie mit äusserer Unsicherheit umgeht, wie sie Langeweile oder Lärm empfindet, wie viel Nähe und Distanz sie braucht. Die Verhaltensweisen der anderen Person wiederum triggern oft unsere eigenen Selbstschutzstrategien wie Abwehr, Flucht, oder Erstarren, was schlussendlich zum Konflikt führen kann.


Ferien als Transformationszeit


Nichtsdestotrotz können wir den Stress und die Strapazen, die wir in den Ferien erleben, nutzen, um aus dem ewigen Kreislauf rauszukommen. Dies, indem wir uns immer bewusster werden über unsere Muster und Strategien und immer ehrlicher kommunizieren.


Dafür können wir ganz simpel mit einigen Fragen zu unseren Glaubenssätzen über Ferien beginnen, um uns über unsere Vorstellungen klar zu werden:


  • Was sind Ferien eigentlich für mich?

  • Welche Überzeugungen habe ich?

  • Welche Hoffnungen und Wünsche gibt es diesbezüglich?

  • Welche Gedanken habe ich, wenn meine Vorstellungen von der Realität abweichen?

  • Entsprechen meine Glaubenssätze wirklich der Wahrheit?


Ein Glaubenssatz von mir ist zum Beispiel, dass in den Sommerferien schönes Wetter sein muss. Damit trage ich bereits eine grosse Portion Druck und eine ständige Ängstlichkeit im Hintergrund mit mir. Denn was ist, wenn es tatsächlich regnet und kalt ist? Bei Regen und Camping kann das beispielsweise zu einem ziemlichen Stimmungstief führen. Aus diesem Loch komme ich erst raus, wenn ich kapituliere und die Situation und alle damit verbundenen Gefühle vollständig annehme (mehr zu diesem Thema kannst du hier nachlesen). So mache ich immer öfter die Erfahrung, dass ich auch in regnerisch-kaltem Wetter friedlich bleiben kann. Der Glaubenssatz kann sich langsam auflösen. Ohne Regen, wenn alles nach meiner Ideal-Vorstellung verliefe, wäre diese Erfahrung nicht möglich.


Ein zweiter möglicher Schritt wäre, unsere eigene und gemeinsame Komfortzone zu ergründen:


  • In welcher Art von Unterkunft fühle ich mich am wohlsten?

  • Bei welcher Art des Reisens fühle ich mich am wohlsten?

  • Welche Aktivitäten erfüllen mich mit Freude?

  • In welcher Region der Erde fühle ich mich wohl?

  • In welchem Klima ist es mir am wohlsten?

Wenn wir diese Fragen ehrlich beantworten, können wir als Paar unsere Ferien so planen, dass sich die Komfortzonen von beiden, zumindest zeitweise, überschneiden. Von dort aus können wir diese schrittweise verlassen. Tipps wie "Step so far outside your comfort zone that you forget how to get back" sind unangebracht und ignorieren unser Nervensystem. Verbringen wir unsere Ferien nämlich konstant zu weit weg von unserer Komfortzone, kommen wir kaum aus dem Überlebensmodus raus. Zurück zuhause haben wir dann zwar vielleicht viele Learnings aus den Ferien zu ziehen, sind aber weder entspannt noch stolz auf uns, sondern brauchen noch Ferien von den Ferien.


Trotzdem kann es sich lohnen, einmal etwas anderes zu probieren. Ein gutes Übungsfeld dafür sind beispielsweise Ferien nur mit uns selbst. Dort können wir üben und sind nicht noch im ständigen Konflikt mit den Bedürfnissen einer anderen Person. Wenn das Alleinsein zu viel ist, eignet sich ein Wochenende zum Herantasten. In meinem ersten Blogpost zum Thema "Vom Wald und von der Angst" berichte ich von dieser transformierenden Wirkung. Ich war für einige Tage alleine auf dem Jakobsweg unterwegs. Im Voraus hatte ich mir Hotelzimmer gebucht, da mir diese Sicherheit wichtig war. Ich hätte auch campen können, aber ich wusste, das hätte mich zu sehr aus der Bahn geworfen. Mit dieser Absicherung im Hinterkopf marschierte ich zwar immer noch etwas unsicher, aber doch guten Mutes los und verliess meine Komfortzone. Schliesslich gelang es mir sogar, meine Angst, alleine im Wald zu sein, nachhaltig zu überwinden. Eine Angst, die mich schon lange eingeschränkt hatte.


In den Ferien trage ich ausserdem immer ein Tagebuch mit mir. Ich finde es nach wie vor ein gutes Tool, um mir über Triggerpunkte, Muster und Strategien bewusst zu werden. Wenn ich im Moment des Geschehens etwas nicht verstehe oder das Gefühl habe, festzustecken, kann es im Nachhinein oft sehr aufschlussreich sein. Den einen oder anderen Aha-Moment habe ich dabei schon erlebt, wenn auch manchmal erst Monate später.


Jedes Mal, wenn wir uns ein kleines bisschen unserer Angst nähern und etwas Neues ausprobieren, vergrössert sich unsere Komfortzone. Unsere Ferien sind dann geprägt von Spannungs- und Entspannungsmomenten, von denen wir mit mehr Selbstvertrauen zurückkehren. Wenn wir uns auch als Paar für unsere jeweiligen Komfortzonen interessieren und vorsichtig Schritte aufeinander zugehen, können wir uns gegenseitig unterstützen, aus unseren Ängsten herauszuwachsen. Wenn wir uns ausserdem unserer Trigger und deren Ursachen bewusst werden, verändern sich unsere Diskussionen. Wir werden ehrlicher miteinander, verständnisvoller, echte Nähe entsteht.



Tolle Ferien? - Eine Frage der Perspektive!

Schlussendlich ist eine Reise auch immer eine Reise zu uns selbst. Und egal wohin wir gehen, wir nehmen uns selbst immer mit. Ferien geben uns die Zeit und die Chance, nicht nur uns, sondern auch unsere Partner noch besser kennenzulernen, mit allen "Macken". Zu erfahren, woher diese kommen und diese anzunehmen. Wenn wir Ferien so betrachten, sind sie weder die langersehnte noch die langweilige oder anstrengende Auszeit. Sondern sie werden zu interessanten Lernreisen. Nicht für eine schnelle Energieladung, sondern für eine nachhaltige Veränderung unseres gesamten Lebens. Eine Menge an Druck fällt weg. Die Ferien können endlich sein wie sie sind und müssen nicht mehr irgendeinem äusseren oder inneren Ideal entsprechen. Und vielleicht finden wir unsere Entspannung genau darin, endlich nicht mehr entspannen zu müssen.


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